Künstliche Ernährung
Künstliche Ernährung - ein Bericht Anna lebt. "Es wäre zu früh gewesen", sagt ihre Mutter und lächelt fast entschuldigend. "Ihr Tod wäre ... einfach zu früh gewesen." Ihre achtjährige Tochter leidet an einem Genfehler mit unbarmherzigen Folgen: Sie hat metachromatische Leukodystrophie (MLD). Weil ein Enyzm seine Funktion nicht ausreichend erfüllt, lösen sich die Hüllen der Nervenstränge im Gehirn auf. Die Zellen können ihre Botschaften nicht mehr übermitteln. Das führt zum Ausfall von immer mehr Körperfunktionen: Erst sind es scheinbar harmlose Ungeschicklichkeiten, häufiges Stolpern, dann epileptische Anfälle, der Verlust der Sprache. Inzwischen hat Anna so gut wie keine Gewalt mehr über ihren Körper, kann keinen einzigen Muskel alleine bewegen. Seit einem Jahr ist sie erblindet. Und irgendwann, spätestens in drei, vier Jahren, wird sie sterben. Aber noch lebt Anna. Sie kann das nur, weil sie künstlich ernährt wird. Als ihr Schluckreflex vor drei Jahren nachließ, erhielt sie eine Magensonde, eine "perkutane endoskopische Gastroskopie", genannt PEG. "Erst hat sie noch getrunken", erzählt ihre Mutter, Karin May-Brandstätter. "Aber von einem Tag auf den anderen hat sie das vehement abgelehnt, sie wollte einfach nicht mehr. Vermutlich hatte sie Angst, sich zu verschlucken und keine Luft mehr zu bekommen." Seither hängt Annas Leben an dem schmalen Schlauch, dessen Ende aus ihrem Magen lugt. In einem kleinen operativen Eingriff wurde er durch den Mund und die Speiseröhre eingeführt und durch die Magenwand nach außen geschoben, bis nur noch das breite Endstück wie eine Schelle die Schnittstelle von innen abschloss. Das andere Ende wurde außen auf der Haut fixiert, das Ganze verwuchs mit der Magenwand - "damit keine Nahrung in die Bauchhöhle gelangt" - und wurde mit einem Ventil verschlossen, über das nun täglich fünfmal Nahrung in Anna fließt. Das hübsche Mädchen mit den großen Augen und den langen dunklen Haaren sieht glücklich aus, wenn sie bei ihrer Mutter auf dem Schoß sitzt und "isst". Diese stützt sie mit dem linken Arm und ihrer Schulter, während sie mit der Rechten unter ihr T- Shirt greift und die dicke Spritze langsam entleert, die sie zuvor mit Nährlösung gefüllt und angeschlossen hat. Langsam, ganz langsam fließt die Flüssigkeit in ihren Magen, 20 Milliliter pro Spritze, fünf Spritzen pro Mahlzeit in vielleicht zwanzig bis dreißig Minuten. "Wir machen dann immer etwas Schönes", sagt die Mutter. "Entweder ich erzähle ihr eine Geschichte oder wir hören gemeinsam eine Kassette. Das ist mir wichtig, denn Essen ist mehr als nur Nahrungsaufnahme. Es ist Gemeinsamkeit, ein sozialer Akt, sinnliche Erfahrung." Um diese Sinneseindrücke so lange wie möglich zu bewahren, darf Anna alles probieren - das heißt schlecken, denn richtig schlucken kann sie nicht mehr. Tagsüber, wenn Anna in einer Förderschule für Schwerstbehinderte ist, betreut von der Münchner Initiative "Helfende Hände", gehen ihre Mahlzeiten weniger intim vonstatten. Dann erhält sie von einer Pflegekraft ein batteriebetriebenes Behältnis angehängt, das über einen Perfusor die Nahrung in gleichmäßigen Mengen in sie pumpt, getaktet. Immerhin kann sie so am Unterricht teilnehmen oder auch mit den anderen Kindern am Tisch sitzen, wenn diese essen - gestützt und fixiert in einem Spezialstuhl, der sie aufrecht hält. "Die regelmäßigen Mahlzeiten nehmen uns ziemlich in Beschlag", erzählt ihre Mutter. "Wir können nicht einfach so in den Zoo fahren. Ich brauche dann das Nahrungspräparat, etwas, um es warmzuhalten, einen Ersatzbeutel, Ersatzsonde, Spritzen, Wasser zum Nachspülen usw." Eine Mahlzeit erhält Anna nachts im Schlaf. Sie wird dann auf der Seite liegend gebettet - umdrehen kann sie sich ja alleine nicht. Trotzdem muss einer der Eltern bei ihr bleiben, falls sie sich verschluckt oder einen Krampfanfall bekommt. Gäbe es die PEG-Sonde nicht, wäre Anna schon seit Jahren tot. So lebt Anna - doch sie lebt nicht das unbeschwerte Leben einer Achtjährigen, vor der noch so viel Zukunft liegt ... Die Eltern kennen das Stirnrunzeln anderer, hinter dem sich die meist unausgesprochene Frage verbirgt, ob es nicht besser wäre, dem Kind das Leid zu ersparen und es sterben zu lassen. Sie haben ihre Entscheidung für die aufwändige Versorgung ihres Kindes sehr bewusst getroffen. "Ich kenne eine Frau," sagt Karin May-Brandstätter, "die ihrem Sohn versprochen hat, er bekäme keine Magensonde. Aber ich könnte das nicht." Und der Krankheit ihren natürlichen Verlauf zu lassen, hätte bedeutet, Anna verhungern zu lassen, zu einem Zeitpunkt, als sie noch so viel mehr wahrnehmen und tun konnte. Allerdings habe ihre Tochter auf diese Weise auch ihren körperlichen Verfall sehr bewusst erlebt, jeden einzelnen Abschied. "Aber es wäre einfach zu früh gewesen", sagt sie nochmals. "Zu früh ..." Magensonden gibt es seit rund 20 Jahren, seither hat diese Pflegetechnologie viele Menschen am Leben gehalten, die ohne sie längst gestorben wären. Ob das zu deren Vor- oder Nachteil ist, hat mitunter zu heftigen ideologischen Debatten in der Gesellschaft geführt, zuletzt im Fall von Terri Schiavo, der schwerstmehrfachbehinderten Patientin in den USA, deren Mann im vergangenen Frühjahr nach 15 Jahren gerichtlich durchsetzte, dass seine Frau nicht mehr künstlich ernährt wurde, woraufhin sie starb. "Magensonden sind der entscheidende Streitpunkt, wenn es um das Erfüllen einer Patientenverfügung geht", sagt Wolfgang Putz, Rechtsanwalt für Medizinrecht aus München. Seine Kanzlei hat einen Präzedenzfall für einen jungen Mann gewonnen, der nach einem Selbstmordversuch zwar gerettet wurde, dann aber 27 Monate lang in einem Pflegeheim im bayerisch-österreichischen Grenzort Kiefersfelden verbrachte - im Wachkoma. Obwohl der Mann in einer Patientenverfügung erklärt hatte, er wolle in einem solchen Fall nicht künstlich am Leben erhalten werden, weigerte sich das Heim, die künstliche Ernährung einzustellen. Er verstarb, noch bevor der Bundesgerichtshof diese Form der "Zwangsernährung" im vergangenen Jahr für rechtswidrig erklärte. Jetzt streitet die Familie um Schadensersatz für das erzwungene Leben und Leiden, wie sie glaubt - das Geld soll für einen karitativen Zweck gespendet werden. "Es geht in diesem Fall nicht ums Geld, sondern ums Prinzip", sagt Rechtsanwalt Putz. Meist geht es allerdings sehr wohl ums Geld, betont der Anwalt. "Die Heime verdienen gut an den sondierten Patienten. Die machen weniger Arbeit, brauchen keine Infrastruktur, müssen nicht mühsam hin- und hergeschoben und gefüttert werden." 140000 PEGs werden jährlich in Deutschland neu gelegt, 70 Prozent davon bei älteren Menschen. Ein Teil von ihnen hat Schluckstörungen, zum Beispiel wegen eines HNO-Tumors oder nach einem Schlaganfall. Jeder zweite Sondenträger leidet jedoch den Angaben zufolge unter psychischen Störungen oder Demenz. Das allerdings bedeutet noch lange nicht, dass die Betroffenen nicht essen könnten, wenn man sich entsprechend um sie kümmert. "Was bedeutet eigentlich, Nahrung ‚verweigern‘?" fragen Thomas Hilbert und Winfried Becker vom Bremer Gesundheitsamt kritisch. Weil es keine repräsentativen Daten zur Ernährungssituation von Heimbewohnern gibt, untersuchten sie 2003 die Situation in Bremen und waren erstaunt, wie sehr PEG-Sonden inzwischen "zum Alltag" gehören. 7,8 Prozent der stationär Pflegebedürftigen hatten einen Nahrungsschlauch, 62 Prozent trugen ihn länger als zwölf Monate, 38 Prozent sogar länger als zwei Jahre. Für diese "Dauerernährung", so die Autoren der Studie, gab es jedoch weder Richtlinien noch wurde sie regelmäßig überprüft, von einer klaren Indikation ganz zu schweigen. "Ist Verweigerung bereits gegeben, wenn jemand länger Zeit und Pflege für Essen und Trinken benötig, als hierfür im Arbeitsplan vorgesehen ist?", fragen sie. "Das erfordert eine gute personelle Ausstattung in den Heimen und einen Abbau des Mangels an Pflegekräften, um zum Beispiel eine individuelle Ernährungsbetreuung möglich zu machen." "Pflegerische Defizite" bei Sondenernährten kritisierten auch Prüfberichte der Medizinischen Dienste der Krankenkassen, zum Beispiel in Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz. Regelmäßige Gewichtskontrollen fehlten, oft war die Zusammensetzung der Nahrungspräparate ungenügend. Dabei berechneten viele Heime trotz PEG noch zusätzlich den Verpflegungssatz, bis der Bundesgerichtshof 2004 diese Praxis unterband. "Wir brauchen klare Regelungen", sagt Becker. Ob die Hersteller der Sondennahrung, Firmen wie Fresenius, Pfrimmer, Novartis oder Hipp, die mit "Komplettlösungen für Arzt und Patienten" werben, wirklich jährlich rund eine halbe Milliarde Euro mit ihren Präparaten umsetzen, ist umstritten. Die Bremer Gesundheitsforscher erhielten auf Anfrage keine Auskunft von den Unternehmen. Im Verhältnis zu anderen Kosten im Gesundheitswesen wäre diese Summe auch nicht besonders hoch - wenn die Präparate richtig eingesetzt werden. Um das zu gewährleisten, trat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) auf den Plan, ein Selbstverwaltungsorgan, in dem seit 2004 die Vertretungen der Krankenkassen, Kassenärzte, Krankenhäuser und Knappschaft zusammengeschlossen sind. Seine Aufgabe ist es, die Bestimmungen des Sozialgesetzbuches zu konkretisieren. Während Nahrungsmittel eigentlich nicht verschrieben werden dürfen, legt das Gesetz fest, dass es Ausnahmen geben kann - ohne sie zu benennen. Der Gemeinsame Bundesausschuss tat dies - mit einem 40-Seiten-Katalog, den er im Februar 2005 vorlegte. Mechanisch oder neurologisch bedingte Schluckstörungen, hieß es da, seien auf jeden Fall eine Indikation für die Kunstkost per Sonde oder Trinklösung, ebenso schwere Bewusstseinsstörungen wie ein Wachkoma. Auch angeborene Enzymdefekte, die Stoffwechselkrankheit Phenylketonurie (PKU), schwere Kuhmilchallergie bei Säuglingen, Morbus Crohn oder deutlicher Gewichtsverlust bei Aids, Magersucht oder Krebs seien weiterhin Anlass zur Verordnung. Für weitere Sonderfälle sah die Richtlinie eine "Öffnungsklausel" vor, die im Zweifelsfall dem Arzt die Entscheidung überließ. Keinesfalls ausreichend sei jedoch, so hieß es, die "Generalindikation Mangelernährung". Ausgeschlossen wurden auch Patienten mit Demenz, dialysepflichtiger Niereninsuffizienz, Abbau des Herzmuskels und Lagerungsschäden (Dekubitus). Begründung: Es gebe keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass künstliche Ernährung bei ihnen zur Verbesserung der Lebensqualität oder zur Verlängerung des Lebens führe. Nicht mehr berücksichtigt wurden bei dieser Regelung auch viele der Patienten, die zwar mühsam, aber im Prinzip noch essen konnten - denn der Bundesausschuss forderte, bei ihnen - anstelle der Sondennahrung - alle geeigneten Heilmaßnahmen wie Logopädie, Ergotherapie, kalorienangereicherte Nahrung und nicht zuletzt lieber Zeit und Zuwendung zu intensivieren. "Patienten wie mein behinderter Sohn, der noch schlucken kann, fallen durch", kritisierte dennoch Monika Boeckmann, Sprecherin der Initiative "Eltern mit neurologisch kranken und behinderten Kindern". Andreas Fröhlich, Pädiater an der Universität Koblenz, warnte davor, Kindern mit Spastischer Tetraplegie die Sondennahrung zu streichen. Diese Behinderung durch Lähmung von Armen und Beinen werde von schweren Schluckstörungen begleitet, die jede Mahlzeit zum Problem mache - die Kinder erhielten oft nicht genügend Kalorien dabei. Und Eberhard Mönch, Vertreter der "Deutschen Interessengemeinschaft Phenylketonurie und verwandte angeborene Stoffwechselstörungen", wandte sich gegen die Absicht, Spezialnahrungen aus dem Leistungskatalog zu streichen, die nicht nur die (medizinisch) notwendigen Aminosäuren, sondern auch (diätetische) Fette und Kohlehydrate enthielten und die Pflege dadurch deutlich erleichterten. Ein Viertel aller Tumorpatienten stirbt an Auszehrung. Kritikpunkt war deshalb auch, dass Krebskranke erst ab einem bestimmten Mindestgewicht künstliche Ernährung erhalten sollten. "Ein Body Mass Index (BMI) von 21 bedeutet, dass diese Patienten normalgewichtig sind", verteidigte der Bundesausschuss diese Grenze. "Eine Stabilisierung oder Erhöhung des Gewichts hat keinen belegten Einfluss auf den Krankheitsverlauf." "Völlig unakzeptabel" nennt Berthold Koletzko, Ernährungsmediziner am Haunerschen Kinderspital in München, diese Einschätzung. "Viele Studien belegen, dass Lebensqualität und Prognose bei Kranken mit Untergewicht und Gewichtsabnahme beeinträchtigt sind." Zwar müssen angehende Ärzte jede Menge über Medikamente und physikalische Medizin lernen, die Ernährungsmedizin komme jedoch in der Ausbildung viel zu kurz. Es fehle jedoch auch an kontrollierten Studien. "Jeder vierte Patient in einem deutschen Krankenhaus ist untergewichtig - mit diesem Problem und seinen Auswirkungen auf die Gesundheit muss man sich doch auseinandersetzen!" Bei alten Patienten liegt diese Rate noch viel höher, jeder zweite Über-65-Jährige ist betroffen, so Christian Kolb, Pfleger in der Geriatrie des Krankenhauses Nürnberg. Sein Dilemma: "Für Demenzkranke gibt es keine einzige Studie, die belegt, dass künstliche Ernährung irgendeinen Nutzen hat. Sie hat vermutlich nicht einmal einen lebensverlängernden Effekt. Aber dann gibt es doch immer wieder Patienten, bei denen sie sich lohnt - aber nur, wenn auch das Umfeld stimmt, wenn sie sich wohl fühlen." Doch im aufgeheizten Klima rund um den Fall Schiavo rief die Diskussion Ängste hervor. Der Verein "Recht auf Essen und Leben e.V.", gegründet von dem Patientenvertreter Ekkehard Bahlo, dem Vorsitzenden des Verbandes der Kehlkopflosen, Frank Mädler, und Armin Nentwig von den "Schädel-Hirnpatienten in Not", warf "Ärzten und Krankenkassen" vor, die Sondennahrung weitgehend aus dem Leistungskatalog streichen zu wollen. Die Bild-Zeitung machte daraus ein "Hungerdrama". Der parkinsonkranke Papst Johannes Paul II. wurde kurz vor seinem Tod noch über eine Sonde ernährt. Und in Nordrhein-Westfalen standen Landtagswahlen vor der Tür. Unter dem öffentlichen Druck kassierte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die Richtlinie des Bundesausschusses ein. Die alternative "Ersatzvornahme" des Ministeriums ist seit 1. Oktober 2005 gültig. Sie sei keine "Straffung der Richtlinie", wie von Ulla Schmidt behauptet, kritisierte GBA-Vorsitzender Rainer Hess, sondern festige den "Status quo": Künstliche Ernährung wird nun auch dann verordnet, wenn die Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme nur eingeschränkt ist, und sie kann mit Heilmaßnahmen wie zum Beispiel Logopädie kombiniert werden. Die Bundespatienten-Beauftragte, Helga Kühn-Mengel, findet die Ersatzvornahme zwar "bedauerlich", aber "sachgerecht ... im Dienst der betroffenen Patienten". Unter der Ersatzvornahme gäbe es keine Klagen der Mitglieder mehr, bestätigt Norbert Müller-Fehling, Geschäftsführer des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte: "Man muss allerdings darauf achten, dass Kassenärzte sie nicht aus Angst vor Regressforderungen ignorieren." Der Bundesausschuss jedoch hat Klage eingereicht - es wird vermutlich Jahre dauern, bis diese entschieden wird. Dabei geht es vor allem darum, ob die Ministerin, der letztlich nur eine Rechtsaufsicht über den GBA zusteht, nicht ihre Kompetenzen überschritten hat. Ihr Vorsitzender Hess spart aber auch nicht mit inhaltlicher Kritik: "Es kann nicht sein, dass alten Menschen PEG-Sonden gelegt werden, obwohl sie mit entsprechender Hilfe, Geduld und Zuwendung selbst essen könnten. Pflege muss besser bezahlt werden."
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