Geriater / Altersmedizin
Was genau ist ein Geriater?
Und vor welchen Aufgaben steht die Altersmedizin hierzulande?
Der Geriater ist der Spezialist für die Behandlung sehr alter
Menschen. Kinder gehen zum Kinderarzt – ganz klar! Ihr Organismus funktioniert
anders als der von Erwachsenen. Und alte Menschen? Die sollten im besten Falle
zum Altersmediziner, also zum Geriater. Der kennt sich aus. Denn auch der
Organismus eines 90-Jährigen funktioniert anders, als der eines 30-Jährigen. Vor
allem: Der typische Geriater wird immer mehr zum Netzwerker zwischen den
Disziplinen. Denn je nach Leiden oder Symptom, wird der alte Patient in
unterschiedlichen medizinischen Bereichen behandelt, von vielen Ärzten und
Therapeuten, die im Zweifelsfalle nichts voneinander wissen und sich nicht
austauschen. Eigentlich ist in jedem Fall aber das Wissen der Altersmediziner
vonnöten, um hochbetagten Patienten eine ausgezeichnete Versorgung zu
gewährleisten. Gerade deshalb werden Geriater in der Medizin der Zukunft eine
strategisch wichtige Rolle spielen. Bei ihnen laufen alle Fäden zusammen.
Die Zukunft der Medizin steht deshalb vor großen Herausforderungen. Da wäre die
wachsende Komplexität von diagnostischen und therapeutischen Prozessen, die
Zunahme dementieller Syndrome, die Verknappung von Ressourcen. Aber auch die
familiäre Unterstützung wird weniger. Vor genau diesem Kontext sucht die Medizin
des Alterns für ältere Menschen individuelle Lösungen. Anlässlich des vom 3. bis 5.
September in Frankfurt am Main stattfindenden größten deutschsprachigen
Altersmedizinkongresses, möchte die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) mit
einigen Antworten auf wichtige Fragen von Angehörigen und Patienten
verdeutlichen, wie die Geriatrie zur Optimierung und Zukunftssicherung der
Versorgung sehr alter Patienten beitragen kann.
Häufig gestellte Fragen an Geriater:
Welche Patienten behandeln Geriater?
Bei einem Teil akut erkrankter alter Patienten
treten spezifische Krankheitserscheinungen in den Hintergrund. Das klinische Bild
wird aufgrund alterstypischer Multimorbidität und Vulnerabilität durch funktionelle
Defizite und/oder durch Störungen primär nicht betroffener Organsysteme dominiert.
Ein typisches Beispiel wäre ein hochbetagter, kognitiv eingeschränkter Patient mit
einer höhergradigen Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz Stadium 4-5 und einer
schweren Polyarthrose, der in Folge einer Dekompensation gestürzt war oder
immobil wurde. Durch Verlust seiner Alltagskompetenz hat er Hilfebedarf bei den
Aktivitäten des täglichen Lebens wie Nahrungsaufnahme, An- und Auskleiden,
Kontinenz, Körperhygiene, etc. Weitere Komplikationen sind zu befürchten:
Hospitalinfektionen, erneute Stürze, Delir, Mangelernährung etc. Die funktionellen
Einbußen können bereits zu Beginn einer Erkrankung oder aber im Verlauf die
diagnostischen und therapeutischen Bemühungen bestimmen.
Was sind Ziele und Besonderheiten geriatrischer Arbeit?
Es ist vorrangiges Ziel der
Geriatrie, diese „geriatrischen Patienten“ zu identifizieren, dem funktionellen Abbau
und der Beeinträchtigung des gesamten Organismus entgegenzuwirken und das
bisherige Niveau an Autonomie zu erhalten oder wiederzustellen. Wegen der
komplexen Situation dieser Patienten nutzt der Geriater zusätzlich zu den
klassischen ärztlichen Untersuchungsmethoden das geriatrische Assessment, um
alterstypische Multimorbidität, funktionelle Defizite, aber auch mentale und
psychische Probleme sowie das soziale Umfeld des Patienten abzubilden, die
multiprofessionelle Therapie im therapeutischen Team zu planen, zu leiten und die
Ergebnisse der Behandlung zu überprüfen. Für diese Arbeit ist die kontinuierliche
Vorhaltung geriatriespezifischer Ressourcen hinsichtlich Ausstattung und Personal
sowie eine auf den geriatrischen Patienten fokussierte Organisation in der Abteilung
oder Praxis notwendig.
Worin besteht der theoretische Hintergrund geriatrischer Arbeit?
Wegen der
altersbedingt eingeschränkten Organreserven reagieren betagte Patienten auf
unterschiedliche Auslöser häufig mit ähnlichen Reaktionsmustern. Diese werden als
geriatrische Syndrome bezeichnet wie Sturz und Immobilität, Inkontinenz,
Mangelernährung, Sarkopenie, Frailty/Gebrechlichkeit, Exsikkose, chronischer
Schmerz, Delir u. a. Aufgrund ihrer multikausalen Verursachung unterscheiden sich
diese vom klassischen Syndrom-begriff. Eine Behandlung muss sowohl die Auslöser
aber auch die Reaktionen der verschiedenen Organsysteme im Kontext der
Multimorbidität berücksichtigen. Dazu bedarf es der Priorisierung einer
Multimedikation ergänzt durch nicht-medikamentöse Therapieformen wie
Krankengymnastik, Ergotherapie, Sprach- und Schlucktherapie sowie soziale
Maßnahmen.
Was muss ein Geriater können?
Neben dem multidisziplinären geriatrischen
Assessment, der Kenntnis geriatrischer Syndrome sowie der Planung und Leitung
des multiprofessionellen Teams, muss der Geriater vor allem gute
differentialdiagnostische und pharmakologische Kenntnisse vorweisen. Unter
Berücksichtigung der häufigsten chronischen Alterskrankheiten wie Hypertonie,
Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, koronare Herzerkrankung, Diabetes mellitus ,
chronische Atemwegserkrankungen, Durchblutungsstörungen, Niereninsuffizienz,
Mangelernährung, Anämie, Arthrose, Osteoporose, Demenz, Depression,
chronische Schmerzen u. a. wird deutlich, dass der Geriater über umfassende
Kenntnisse und Fertigkeiten in der Inneren Medizin, ergänzt durch Aspekte anderer
Fachgebiete verfügen muss. Hierzu gehören beispielsweise die Beurteilung von
EKG, Langzeit-EKG und –Blutdruckmessung, Spirometrie, Endoskopie inkl. PEG-
Anlage, Sonographie inkl. Duplexdiagnostik, Echokardiographie, Doppler-Druck-
Messung, Schluckdiagnostik, Beurteilung von StandardRöntgenuntersuchungen u.a.
Eine qualifizierte Geriatrie ist zudem ohne Kenntnisse der internistischen
Intensivmedizin nicht machbar. Spezielle Techniken wie EEG, ENG, CT,
Herzkatheter und andere sind wichtige Ergänzungen in der Hand des konsiliarisch
hinzugezogenen Organspezialisten.
Womit beschäftigt sich geriatrische Forschung?
Die Kompression der Morbidität mit
Erhalt der Autonomie bis ins hohe Alter stellt das übergeordnete Ziel geriatrischer
Forschung dar. Grundlagen-orientierte Schwerpunkte (Alternsforschung) umfassen
beispielsweise die Bereiche Sarkopenie, Frailty, Immunologie und körperlicher
Aktivität/Ambient Assisted Living. Neben der Präzisierung des geriatrischen
Assessments erlangen aktuell vor allem Themen im Bereich der Mangelernährung,
des körperlichen Trainings auch von Demenzpatienten, der Sturzprävention und der
Polypharmazie (Interaktionen, Einschätzung neuer Medikamente etc.) klinisch
Relevanz. Die wachsende Qualität kommt auch in einer Aufwertung der
Publikationsorgane zum Ausdruck (steigende Impact Faktoren/ Reichweiten).
Wesentliche Elemente geriatrischer Arbeit konnten zudem auf hohem Evidenzlevel
bestätigt werden. Prominentes Beispiel ist der positive Effekt einer Assessement-
basierten geriatrischen Behandlung auf Funktion und Überleben der Patienten im
Vergleich zu einer herkömmlichen Behandlung (Cochrane Database Syst Rev. 2011
Jul 6;(7):CD006211).
Wo werden Geriater benötigt?
Krankheitsspezifische und funktionsorientierte
Maßnahmen müssen sich bei der Behandlung alter, multimorbider Patienten sinnvoll
ergänzen. Deshalb ist es zweckmäßig, dass Geriater auf unterschiedlichen Ebenen
der medizinischen Versorgung in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden.
Hochbetagte Patienten werden selbstverständlich nach den krankheitsspezifischen
Leitlinien in den jeweiligen (Organ-)Abteilungen versorgt. Wenn jedoch
Funktionsdefizite oder alterstypische Multimorbidität das klinische Bild bestimmen,
können gleich zu Beginn oder im Verlauf einer akuten Erkrankung geriatrische
Maßnahmen wie Assessment, multiprofessionelle Therapie und Rehabilitation in den
Vordergrund rücken. Jeder Mediziner, der alte Patienten behandelt, sollte das Primat
einer funktionserhaltenden Behandlung zum richtigen Zeitpunkt erkennen. Der
Geriater muss gewährleisten, seine Therapie bedarfsweise zu Gunsten einer
gezielten Intervention (etwa einer sofortigen PTA, einer Hüft-TEP, einer
Krisenintervention bei schwerer Psychose, einer Lyse bei cerebraler Ischämie etc.)
zurückzustellen oder zu unterbrechen. Dies stellt auch im aktuellen DRG-System für
alle Beteiligten eine optimale Versorgungsform dar, da die Übernahme der Patienten
zur geriatrischen Komplexbehandlung die Verweildauer in den verlegenden
Abteilungen verkürzt. Zudem können viele Hochbetagte durch Erhalt ihrer
vorbestehenden Alltagskompetenz ins gewohnte Umfeld entlassen werden. Für die
ambulante Medizin gilt, dass alte Patienten natürlich von Ihren Haus- und
Fachärzten behandelt werden. Erst wenn umfassende Diagnostik und Therapie zur
Aufrechterhaltung von Teilhabe und Autonomie notwendig werden oder komplexe
Fragestellungen aus Multimorbidität und Polypharmazie resultieren, sollten Geriater
wie andere spezialisierte Fachärzte auf Überweisung tätig werden.
Wie will sich die Geriatrie im Fächerkanon einordnen?
In den meisten europäischen
Ländern ist Geriatrie ein eigenständiges Fach oder ein Schwerpunkt in der Inneren
Medizin. In Deutschland ist sie als Schwerpunkt in der Inneren Medizin bereits in 3
Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt) anerkannt. Da die
Behandlung der häufigsten alters-assoziierten Erkrankungen Kenntnisse und
Fertigkeiten der internistischen Basisweiterbildung voraussetzen und die meisten
geriatrischen Kliniken (vor allem im Akutbereich) internistischen Abteilungen
zugeordnet sind, ist ein Facharzt nur als Schwerpunkt in der Inneren Medizin (neben
Gastroenterologie, Rheumatologie, Kardiologie etc.) sinnvoll. Für Fachbereiche mit
hohem Anteil betagter Patienten wie der Neurologie, der Psychiatrie oder der
Allgemeinmedizin, wird wie bisher eine fachbezogene klinische Zusatzweiterbildung
in Geriatrie erhalten bleiben. Kurse zur Geriatrischen Grundversorgung sollten für
alle Ärzte insbesondere in der ambulanten Versorgung angeboten werden.
Welche Rolle spielt die Geriatrie in der Krankenversorgung bisher und in Zukunft?
Geriatrie verfügt nach der Kardiologie mittlerweile über die zweitgrößte Anzahl von
spezialisierten internistischen Betten in deutschen Krankenhäusern. Die Geriater
sind in die Bereitschaftsdienste der jeweiligen Kliniken und, wenn vorhanden auch in
die internistische Notaufnahme integriert. Die frühzeitige und kontinuierliche
Einbindung geriatrischer Kompetenz in die Behandlungsabläufe wird die Qualität der
Versorgung hochbetagter, multimorbider Patienten steigern. Es ist nicht Ziel der
Etablierung des Fachgebietes Geriatrie, alle alten Patienten zu behandeln oder
Spezialisierungen in den jeweiligen Organfächern für den alten Menschen zu
kopieren.
Die Informationen wurden von folgenden Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für
Geriatrie (DGG) erarbeitet und konsentiert: M. Denkinger (Ulm), V. Goede (Köln), W.
Hofmann (Neumünster), A. Kwetkat (Jena), M. Meisel (Dessau), R. Püllen
(Frankfurt), Ralf-Joachim Schulz (Köln), U. Thiem (Herne).
Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG)
Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) ist die wissenschaftliche
Fachgesellschaft der Ärzte, die sich auf die Medizin der späten Lebensphase
spezialisiert haben. Wichtige Schwerpunkte ihrer Arbeit sind neben vielen anderen
Bewegungseinschränkungen und Stürze, Demenz, Inkontinenz, Depressionen und
Ernährungsfragen im Alter. Häufig befassen Geriater sich auch mit Fragen der
Arzneimitteltherapie von alten Menschen und den Wechselwirkungen, die
verschiedene Medikamente haben. Bei der Versorgung geht es darum, den alten
Menschen ganzheitlich zu betreuen und ihm dabei zu helfen, so lange wie möglich
selbstständig und selbstbestimmt zu leben. Die DGG wurde 1985 gegründet und hat
heute rund 2000 Mitglieder.